Liebe & Anarchie
Jan Kosyk
deu eng

Das Volk hat die Politiker, die es verdient!

Dies ist ein Essay, dass ich im Rahmen meines Studiums der Politikwissenschaft an der TU Dresden verfasst habe. Das Thema lautete „Das Volk hat die Politiker, die es verdient!“. Das Essay ist ebenfalls bei Grin zu finden.

Hat das Volk die Politiker, die es verdient? Ganz einfach: Ja.

Obwohl sich die Frage eigentlich nicht so undifferenziert beantworten lässt. Denn auch wenn nur die Demokratie laut Definition als Volksherrschaft gilt, so gibt es das Volk doch in jedem politischen System. Eine Mitwirkung des Volkes kann in einer Diktatur allerdings schlecht als solche bezeichnet werden. Also beschränken wir auf den einen sinnvollen Fall; den, bei dem das Volk die Schuld an seinen Vertretern trägt.

Zuallererst einmal sollte abgegrenzt werden, wer mit Volk und wer mit Politiker gemeint ist. Als Staatsbürgervolk versteht man diejenigen, die vor allem am Wahlrecht teilhaben; dem „Demos“, die Grundlage der Demokratie. Hier gibt es das aktive und das passive Wahlrecht. Wer aktiv wählt, zählt zum Volk, wer sich passiv wählen lässt, zählt als Politiker. Da auch passive Wähler meist aktiv wählen, gehört vor der Wahl jeder zum Volk. Sollte zumindest. Nach der Wahl wird es ziemlich offensichtlich. Beim Beispiel Deutschland wird dem Demos eine legislative Schweigepflicht für vier Jahre auferlegt, bis es wieder Volk sein darf. Andere Demokratien lassen immerhin ein Interventions- oder gar Entscheidungsrecht zu. In exekutiver Hinsicht muss jedoch jedes Volk seinen Vertretern, sprich den Politikern, vertrauen und deshalb kommt den Wahlen eine große Bedeutung zu. Und dort liegt der Hund begraben. Jeder einzelne Bürger im Staatsvolk ist verpflichtet, sich über die Wahlmöglichkeiten zu informieren und diese wahrzunehmen: Parteiprogramme und Wahlinformationen, Zeitungen, Radio und Fernsehen, politisches Geschehen der vorhergehenden Legislatur, aufgestellte Personen und deren Biographien und Meinungen. Ist damit die Basis für die Entscheidungsfindung gelegt, sollte das Wissen beim Wählen angewendet werden.

Meist hapert es schon an der Entscheidungsfindung, der guten Wissensaneignung über die Wahlmöglichkeiten. Aus Gewohnheit, Unwissen, Faulheit oder Unfähigkeit, aber auch aus Überangebot, Zweifel an der Glaubhaftigkeit und medial überfrachteter Informationen informiert sich niemand mehr direkt. Es wird auf Allgemeinglauben, Stammtischgespräche, konstruierte Fakten und unumstößliche „Wahrheiten“ zurückgegriffen.

Das Wählen selbst ist nicht minder ein Problem und das in beiden Ausführungen. Entweder man interessiert sich nicht für Politik und geht nicht wählen, oder man interessiert sich für Politik, ist frustriert und geht nicht wählen. Die Wahlbeteiligungen sprechen meist für sich. Hier liegt es nur in der Selbstverantwortung des Staatsvolkes, entscheidende Impulse zu geben, um etwas zu verändern. Einerseits darf die Frustration nicht in Resignation verwässern, andererseits kann man, anstatt drei Stunden Dauerberieselung aus der Röhre, auch mal eine halbe Stunde zum Politikteil der Tageszeitung greifen. Das tut keinem weh und fördert die gelebte Demokratie. Was passiert, wenn kein Politiker und keine Partei passt? Dann ist „den Kopf in den Sand stecken“ auf keinen Fall die richtige Methode. Nichtwähler wählen keinesfalls Protest. Ganz im Gegenteil. Sie stimmen dem Endergebnis vorbehaltlos zu. Angenommen zur sächsischen Landtagswahl 2009 gäbe es 7% mehr Wahlbeteiligung und diese 7% hätten einen leeren Stimmzettel abgegeben: Die NPD scheiterte an der 5%-Hürde und die schwarz-gelbe Koalition an der absoluten Mehrheit. Auch hier liegt es in der Verantwortung des einzelnen Bürgers, mehr als nichts zu tun.

Aus welchem Antrieb heraus sollte das Volk überhaupt ein Interesse an der Vertretung haben?

Immerhin haben wir komplexe politische Systeme, um mehrere Millionen Menschen in einem Staat fassen zu können. Wie bildet sich staatsbürgerliches Bewusstsein? Ein frühes Auftauchen des Sachverhaltes findet sich bereits 1811 bei Joseph Marie Graf von Maistre: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“ Er führt die provokante Aussage gleich weiter: Demokratie ist nur in einer überschaubaren Menge von Menschen denkbar. Die Meinung des Volkes vertrete nicht jeder einzelne, sondern wenige Privilegierte. Kurz gesagt: „Der einfache Bürger gilt in der Tat nichts“. Und er schiebt nach: In einer Demokratie ist nicht das Volk der Souverän, sondern das Geld. Sein Lösungsansatz findet sich, historisch bedingt, in der Monarchie. Eine Auffassung, die ich nicht teile. Der Gedanke „Ich kann sowieso nichts ändern, also mache ich auch nichts“ findet sich als einer der Hauptgründe gegen den verantwortungsvollen Umgang mit Demokratie. Es ist eine moralische und ethische Einstellung, das Leben in der Gesellschaft zu gestalten und hat viel mit Demokratieverständnis zu tun. Dazu ist eine ausgeprägte politische Bildung unerlässlich. Eine Gesellschaft, welche demokratisch sein will, muss sich das demokratische Verständnis immer wieder selbst nahe legen und überdenken.

Doch Maistres Einschätzung, Geld regiere die Welt, ist nicht von der Hand zu weisen. Gerade weil Demokratie und Kapitalismus geschichtlich so gern Hand in Hand gehen. Wie soll also ein Vertrauen in die Politiker aufgebaut werden, wenn Entscheidungen anscheinend nicht auf dem Volkswillen basieren, sondern auf wirtschaftlichen Zwängen? Der Wirtschaftsliberale Lester Thurow sowie der Wirtschaftskorrespondent R. C. Longworth fassen das Problem auf ihre Art und Weise zusammen: Die Grundzüge der Demokratie sind die Gleichheit vor dem Gesetz; die entscheidenden Faktoren des Kapitalismus sind Wettbewerb und Ungleichheit. Deshalb entsteht der Eindruck, dass Regierungsentscheidungen nicht den Volkswillen treffen, da sich mit jeder Entscheidung jemand benachteiligt fühlt. Mal mehr, mal weniger. Um also das Vertrauen des Volkes in die Volksvertreter zu stärken – und damit in die Demokratie – muss ein transparentes und ausgeglichenes Verhältnis zwischen demokratischem Staat und Wettbewerbswirtschaft existieren.

Den Politikern fällt es schwer, dieses Verhältnis zu finden. Das zeigt sich in den immer wieder auftretenden fragwürdigen Entscheidungen, Skandalen und deren Vertuschungsversuchen. Die Politiker meinen, sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen. Das Interesse an der Politik sinkt damit weiter und die notwendige Kommunikation kommt mehr und mehr zum Erliegen – der Vertrauensverlust auf beiden Seiten steigt. Ein Teufelskreis.

Kann darauf gehofft werden, dass alle gewählten Vertreter uneigennützig agieren werden? Schwer vorstellbar, immerhin handelt der Wähler auch nicht uneigennützig. Er sucht sich den Vertreter aus, der seine eigenen Interessen am besten vertritt. Der Wähler sollte nur nicht nach den Wahlen aufhören. Politik passiert nicht nur alle vier Jahre, Politik passiert täglich. Ist der Pluralismus in der Volksvertretung nicht mehr ausreichend, muss jeder Bürger dafür sorgen, dass die Vielfalt der Meinungen in der Demokratie wieder gestärkt wird. Mittel gibt es deren viele, angefangen von Petitionen und Volksentscheiden über Demonstrationen und Streiks bis hin zu verschiedenen Aktionen des zivilen Ungehorsams.

Ist die Wahlbeteiligung also hoch, ausgeprägtes politisches Interesse vorhanden und das Verantwortungsgefühl der Wähler und Gewählten stark, lässt sich die negative Konnotation der Aussage „Das Volk hat die Politiker, die es verdient!“ entfernen. Eine aktive Beteiligung aller Akteure der Demokratie führt dazu, dass die Trennung zwischen Volk und Politiker aufgehoben wird. Es gibt dem Satz seine eigentliche Bedeutung: „Das Volk hat die Demokratie, die es lebt!“

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